Inklusion ist vor 10 Jahren als Menschenrecht in der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschrieben worden. 167 Staaten und die EU haben sich dieser Konvention angeschlossen und damit die volle und wirksame Teilhabe und Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen an der Gesellschaft zu ihrem rechtlichen Grundsatz gemacht. Es gibt weltweit ca. 650 Millionen Menschen mit Behinderungen, das sind 10% der Weltbevölkerung.
Soll etwas werden, so muss etwas sein, woraus es wird und von dem es erzeugt wird. Aristoteles
Im Mittelpunkt der Inklusionsbestrebung steht „die Förderung einer menschlichen, sozialen und wirtschaftlichen Gesellschaft unter uneingeschränkter Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, ohne deren Bedürfnisse zu übersehen“[1].Eine solche „uneingeschränkte Teilhabe“ gesellschaftlich und menschlich zu ermöglichen, betrifft jeden von uns und in besonderer Weise die Praxis des institutionalisierten Helfens.
Inklusion löst den bis dahin geltenden Leitgedanken der Behindertenpolitik, nämlich den der Integration und Wiedereingliederung ab. Dieser hat ein umfängliches Versorgungssystem ambulanter gemeindenaher Hilfsangebote entstehen lassen, deren zentrale Maxime lautete: ambulant vor stationär! Der Sozialraum „Gemeinde“ wurde entdeckt und durch diese neuen Angebote gestaltet.
Insbesondere in den städtischen Regionen zeigt sich heute, dass das Versorgungsnetz Enklaven konzentrierter Einseitigkeiten gebildet hat, nun aber nicht mehr außerhalb, sondern innerhalb der Gemeinde, eine „Monokultur im Sozialen“. Klaus Dörner charakterisiert dies zugespitzt wie folgt: „Noch nie zuvor war eine Kultur auf die Idee gekommen, alle Bürger nach ihrer zeitgemäßen Brauchbarkeit zu sortieren und, um die Brauchbaren zur maximalen Entfaltung ihrer Arbeitsfähigkeit zu bringen, die Unbrauchbaren als hinderliche Störfaktoren, als Hilfs- oder Kontrollbedürftige zu etikettieren, nach Sorten zu spezialisieren und zu homogenisieren und – nach in der Regel erfolglosen Veränderungsbemühungen – in einem flächendeckenden Netz von Institutionen zu konzentrieren und lebenslänglich unsichtbar zu machen.“[2]
Mit dem Leitgedanken Inklusion geht es nun um die voll-umfängliche Ermöglichung der Teilnahme aller Menschen an allen gesellschaftlichen Aktivitäten auf allen Ebenen, und zwar von vornherein.[3]Inklusion setzt also Zugehörigkeit vorausund wird aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive dann realisiert sein, wenn Menschen mit und ohne Hilfebedarf ihre Beziehungen selbständig, aktiv gestalten.
Wenn nun „alle gesellschaftlichen Bereiche für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zugeschnitten sein müssen oder geöffnet werden und es nicht Aufgabe des Menschen mit Behinderungen ist, sich anzupassen um seine Rechte wahrzunehmen“[4], dann ist zu fragen, auf welche Weise dies ermöglicht werden kann. Und damit wird notwendig werden, die Sozialräume außerhalb von Institutionen stärker in den Blick zu nehmen.
„Wenn jeder Mensch – mit oder ohne Behinderung – überall dabei sein kann, in der Schule, am Arbeitsplatz, im Wohnen, in der Freizeit, dann ist das gelungene Inklusion. In einer inklusiven Gesellschaft ist es normal, verschieden zu sein“[5]. Das klingt ganz einfach, aber, wenn wir ehrlich sind, doch nur solange, wie wir es uns zunächst nur als ein tolerantes Nebeneinander von Individualitäten denken; beziehen wir es mehr auf ein Miteinander und Füreinander zwischen uns, wird es schon schwieriger. Es ist also zu fragen, wie Vielfalt in einem gemeinsamen sozialen Raum tasächlich lebbar wird? Ein wirklich inklusiver Sozialraum wird sich nur dort entwickeln können, wo es neben dem Miteinander auch das Füreinander gibt. Denn neben dem Bedürfnis nach Selbstbestimmung hat jeder Mensch auch das Bedürfnis, für jemanden anderen etwas zu sein, „durch das eigene Tun Bedeutung für Andere zu haben“[6]. Beide Bedürfnisse sind Ausdruck menschlicher Freiheit und Würde und als Willenskraft individuelles Entwicklungspotential in jedem Menschen. Der inklusive Sozialraum entsteht also in einem komplexen sozialen Prozess der Aneignung und Gestaltung dieses Raumes durch gleichberechtigte Handlungen aller Beteiligten.
Genau hier setzt ein neues Projekt im ländlichen Raum in Niedersachsen an. Dazu haben sich Profis der Sozialen Arbeit, die Bäuerliche Gesellschaft im Norden, Einrichtungen der Behindertenhilfe, Höfe, Familien, Menschen mit Hilfebedarf und Angehörige zum Netzwerk Maßstab Mensch verbunden. Gemeinsam arbeiten sie daran, das Potential eines neuen, ambulanten Betreuungsangebots in bestehenden Sozialräumenzu sichten und für Menschen mit Behinderungen nutzbar zu machen. Es beginnt zunächst mit Höfen, kann sich aber auf jeden menschlichen Sozialraum beziehen, also auch auf Familien oder jeden Arbeitszusammenhang.Die Fachstelle Maßstab Mensch unterstützt sowohl Menschen, die solche Lebens- und Arbeitsorte öffnen als auch Menschen, die solche Lebensorte finden wollen. Sie ist ein wichtiger Faktor in einem neuen, auf Gleichberechtigung und Partnerschaft ausgerichteten Beziehungsgeschehen.Denn grundlegend für das Gelingen dieser neuen sozialräumlichen Prozesse sind die menschlichen Beziehungen zwischen allen Beteiligten. Die Fachstelle ist verbindlicher und kontinuierlicher Teil dieses neuen Beziehungsprozesses, vom ersten Beratungsgespräch über das gegenseitige Kennenlernen bis zur Begleitung in der neuen Lebenssituation.
Worin liegt das Entwicklungspotential dieser neuen Konstellation?
Die Fachstelle erhält in dieser Konstellation die Chance, eine neue Zugehörigkeit und Teilhabefähigkeit zu entwickeln. Dies stellt interessante Anforderungen an sie, nämlich Erfahrungen zu sammeln, wie sie in angemessener Weise flankierend wirksam für die Menschen und den Ort werden kann.
Der Hof erhält eine neue sinnstiftende Aufgabe als Ort und erfährt einen menschlichen und fachlichen Zuwachs. Er öffnet sich, stellt sich als Lebensort anderen zur Verfügung. Das geschieht meistens durch eine bewusste Willensentscheidung, durch ein Motiv im Vorlauf, das sich in der Begegnung dann konkretisieren kann. Bereits in der Phase des Kennenlernens, der Anbahnung kann sich leise zeigen, was jeder für den Anderen sein kann. Die trialogische Konstellation von Fachstelle, Hof und Mensch mit Unterstützungsbedarf ermöglicht, dass solche Resonanzen nicht nur wahrgenommen, sondern auch kommuniziert werden können.
Menschen mit Unterstützungsbedarf entscheiden sich für diese nicht- institutionelle, gemeinschaftliche Entwicklungsumgebung, weil sie auf eine haltgebende Umgebung und verlässliche Anwesenheit angewiesen sind. Meistens sind sie von gemeinschaftlichen Orten wie Höfen angezogen, weil sie sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten oder Bedürfnisse in einem Zusammenhang betätigen, einbringen wollen. In bestehenden, „normalen“ Sozialräumen erhalten Menschen mit Unterstützungsbedarf die Chance, nicht nur Empfänger von Hilfen, sondern selbst hilfreich für andere zu sein. Das ist wichtig, denn eine Hilfe, die nur gibt und nichts erwartet, raubt jedem Menschen seinen Stolz.
Auch zeigt sich in dieser neuen trialogischen Konstellation, dass schwierige Themen, wie Veränderungswünsche, aber auch Konflikte sich besser kommunizieren lassen. Es wird als hilfreich erlebt, wenn die Fachstelle in der Verständigung zwischen Hof und Mensch mit Unterstützungsbedarf vermittelnde und moderierende Funktionen übernimmt, denn in diesem nahen Miteinander wirken sich Interessenskonflikte zwischen den Parteien gleich viel existentieller aus. Die Fachstelle muss aber auch Partei ergreifen können, wenn z.B. Willensintentionen überhört oder wiederholt unterdrückt werden. Sie muss sich aber auch zurückweisen lassen, wenn sie selbst sich zu sehr einmischt in Lebensverhältnisse. Inklusiv werden diese kommunikativen Prozesse, wenn es gelingt, sie wirklich auf Augenhöhe miteinander zu führen.
Das Neue entsteht in einem sensiblen Prozess, der erahnen lässt, dass Entwicklungen aus dieser wechselseitigen Bezogenheit zu einer neuen Kultur des Helfens[7]führen können.
[1]Heiner Bielefeldt: Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention, Bonn – Berlin, Juni 2009 (PDF-Datei, 103 kB) S. 4, 6
[2]Klaus Dörner: Leben und sterben, wo ich hingehöre, Dritter Sozialraum und ein neues Hilfesystem, PARANUS- Verlag, 2007, 23
[3]Nationaler Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention – Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft (PDF-Datei, 12 MB; bmas.de; September 2011) S. 11
[4]Broschüre des Behindertenbeauftragten mit Originalfassung, offizieller und sog. „Schatten“–Übersetzung (behindertenbeauftragter.de)
[6]Klaus Dörner: Leben und sterben, wo ich hingehöre, PARANUS- Verlag, 2007, 18
[7]Klaus Dörner: Leben und sterben, wo ich hingehöre, PARANUS- Verlag, 2008